In Österreich gibt es derzeit etwa 8.000 gehörlose Personen, 2.000 davon sind cochlea-implantiert. Es handelt sich also um die Minderheit einer Minderheit. Jährlich werden im Bundesgebiet etwa 200 Implantationen vorgenommen, davon etwa 100 an der HNO-Universitätsklinik Wien.
Je nach Statistik, gibt es in Österreich etwa 500.000 bis 700.000 nicht €žnormal€œ hörende Personen. Eine genauere Datenlage gibt es nicht, da Hörstörungen keine meldepflichtigen Erkrankungen sind. Die Definition €žHörstörung€œ ist unscharf. Von der Hörstörung bis zur hochgradigen Schwerhörigkeit oder gar Taubheit gibt es graduell viele Abstufungen.
Hörstörung / Gehörlosigkeit
In der Diskussion über die Häufigkeit von Hörstörungen und der damit verknüpften Forderung nach Leistungen des Gesundheits- oder Sozialsystems, z. B. die Forderung nach Gebärdendolmetsch im ORF-Fernsehprogramm, werden diese Tatsachen gerne bewusst vermischt, um die scheinbare Wichtigkeit von Forderungen zu unterstreichen. Hörbehinderung ist aber nicht gleichbedeutend mit Gehörlosigkeit. Bei etwa 75.000 Geburten in Österreich finden sich durch das Neugeborenen-Hörscreening im Schnitt 75 Neugeborene mit Hörstörung. Davon ist jedes zehnte tatsächlich gehörlos — sieben bis acht Kinder pro Jahr in ganz Österreich. Alle anderen Kinder können mit Hörgeräten versorgt werden und meistern so ihren Lebensweg.
In der Studie erfasste Patienten
Seit 2002 werden alle Patienten der HNO-Universitätsklinik Wien, die dies wünschen, genetisch aufgearbeitet. Seit 1993 überblicken wir sämtliche Patientendaten und Finanzierungsströme. Ein Fünftel der in Österreich lebenden Gehörlosen und Spätertaubten sind mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt.
Erwachsene: 450 Personen nach dem vollendeten 14. Lebensjahr wurden mit einem bilateralen CI versorgt. Für diese spätertaubten erwachsenen Patienten war weder der Österreichische Gehörlosenbund noch das Erlernen der Gebärdensprache eine Alternative. Etliche unserer PatientenInnen hatten ausführlichen Kontakt mit verschiedenen Institutionen und Vereinen im Gehörlosen-/Hörbehinderten-Bereich, fühlten sich aber von diesen unverstanden und im Stich gelassen. Die Optionen €žLernen Sie jetzt mal die Gebärdensprache€œ oder die Flucht in die Frühpension sind nicht als willkommene Alternativen betrachtet worden. Die Spätertaubten wollten ihr Leben weiterhin selbst in der Hand halten und in der Gesellschaft der Hörenden verbringen. Kein einzige(r) unserer implantierten Patienten beherrscht die österreichische Gebärdensprache auch nur in Fragmenten. Daraus folgt, dass die österreichische Gebärdensprache nur von einer verschwindenden Minderheit (etwa 2.000 Personen im Bundesgebiet!) gesprochen wird.
Kinder: 450 Säuglinge, Kleinkinder und Schulkinder bis zum 14. Lebensjahr wurden im untersuchten Zeitraum mit einem oder zwei CI versorgt. 90 Prozent dieser Kinder waren kongenital oder prälingual ertaubt. 45 waren nach Spracherwerb im Schulalter ertaubt. Wesentlich ist, dass alle 45 Kinder ihren Schulweg weiter absolvieren konnten und in keinem Fall eine Rückstufung in eine Sonderschule oder Hörbehindertenschule notwendig war.
Kinder nach dem 2. Lebensjahr sind de facto bereits zu alt für eine CI-Versorgung. Jedes Jahr Verzögerung bei der Implantation bedeutet einen unwiederbringlichen Verlust im Hör-Sprachvermögen des Kindes.
1. Kinder, die vor dem 2. Lebensjahr implantiert werden, erreichen bis zur Einschulung ein ausreichendes Hör-Sprachvermögen und eine entsprechende Sprachentwicklung für den erfolgreichen Besuch und Abschluss einer Regelschule.
2. Kinder, die zwischen 2. und 4. Lebensjahr implantiert werden, erreichen bis zur Einschulung nicht das nötige Hör-Sprachverständnis. Sie werden ein Jahr später eingeschult. Nur jedes zweite Kind kommt in die Regelschule, die anderen in den Sonderschulbereich (die Kinder, die dem 4. Geburtstag näher waren).
3. Von den Kindern (prälingual, ohne Spracherwerb), die nach dem 4. Lebensjahr implantiert werden, erreicht keines die Regelschule.
4. Bei allen Kindern, die erst nach dem 6. Lebensjahr implantiert werden, handelt es sich um Individualentscheidungen in Zusammenarbeit mit Eltern, Schulen und Schulbehörden.
Unsere größten Herausforderungen sind die Kinder der Gruppen 3 und 4. Es sind dies Asylkinder, Kinder mit Migrationshintergrund oder durch Familiennachzug ins Land gekommen, die ohne jegliche Sprachkompetenz, auch nicht in Gebärdensprache, bei uns vorstellig werden, oder wo sich erstmals durch die Schulpflicht die Notwendigkeit einer medizinischen Abklärung ergibt.
Die entstehenden Kosten
Für die Medizinische Einzelleistung (MEL) CI erhält die Krankenanstalt je nach Korrekturfaktor 30.000 Punkte. Im Mittel lukriert das AKH Wien aus dem MEL Code CC 050 etwa 30.000 €. Die tatsächlichen Aufwendungen betragen jedoch 51.000 €. Pro CI erhält die Krankenanstalt um 21.000 € zu wenig, um zumindest kostenneutral zu sein.
Demgegenüber stehen die Kosten im vorschulischen und schulischen Bereich: Ein Platz im Sonderkindergartenbereich (oder sonderpädagogischen Bereich) kommt auf 7.500 € pro Kind und Jahr. Ein Kind im Sonderkindergarten kostet so viel wie zehn Kinder im Regelkindergarten. Der staatliche Aufwand pro Kind im gesamten Regel-Pflichtschulbereich beträgt etwa 6.300 €. Laut Bundesfinanzgesetz 2006 wurden für das Bundesinstitut für Blindenerziehung und Gehörlosenbildung 10,6 Millionen € ausgegeben. Jeder Schüler kostet somit pro Schuljahr 44.537 €. Damit bewegen wir uns im Verhältnis 1:7 bis 1:8 im Vergleich der Kosten Regelschule zum Sonderschulbereich. Neun Jahre Pflichtschule im Regelschulbereich kosten etwa 56.700 € oder neun Jahre Pflichtschule im Sonderschulbereich 400.833 €.
Handlungsstrategien
Wichtig ist die getrennte Aufarbeitung von Erwachsenen und Kindern. Ökonomisch gesehen ist es nicht sinnvoll, bereits pensionierte Patienten zu implantieren, wenn diese in der Pension verbleiben. Dies ist eine harte Aussage, die unserer medizinischen, aus der griechischen Philosophie kommenden Ethik widerspricht. Trotzdem gibt es Staaten, die solche ökonomischen Regeln über Medizin und Ethik stellen, z. B. Großbritannien. Im angloamerikanischen Raum steht das Wohl der Population über dem Wohl des Einzelnen. Im Gegensatz zu unseren Wertvorstellungen, die einen Zugang zu individuellem Glück, Freiheit und Selbstverwirklichung sieht. Das Individuum steht in Österreich über der Population. Aus diesem Grund lassen sich für uns unvorstellbare Rationierungen und Restriktionen im englischen Gesundheitssystem durchführen, wie z. B. kein Cochlea Implantat jenseits des 65. Lebensjahrs. Viele dieser Restriktionen sind ökonomisch sinnvoll. Diese ökonomischen Fakten stellen sich auch in dieser Arbeit dar.
Für drei Gruppen sinnvoll
Als Konsequenz der vorliegenden Ergebnisse ergibt sich, dass aus ökonomischen Überlegungen heraus Cochlea-Implantationen nur für drei Gruppen sinnvoll wären:
1. möglichst junge Kinder, die später alle den Regelkindergarten und die Regelschule besuchen;
2. postlingual ertaubte Schulkinder, die nach der Implantation die Regelschule erfolgreich abschließen und einen "normalen" Lebensweg vor sich haben;
3. „Transferleistungsempfänger, bei denen garantiert ist, dass sie nach der Implantation wieder ins Berufsleben einsteigen und Beitragszahler werden.
Bereits die Gruppe der vor und nach der Implantation Erwerbstätigen bringt im Verhältnis zum Gesamtaufwand nur so wenig finanzielle Besserstellung, dass es aus ökonomischer Betrachtung heraus günstiger wäre, einen derartig Erwerbstätigen zunächst einmal zu entlassen oder in Frühpension zu schicken. Erst aus der Gruppe der Transferleistungsempfänger heraus wäre er dann ein ökonomisch würdiger Cochlea-Implantat-Kandidat. Patienten, die sich gehörlos durch den Berufsalltag quälen, sind also auch noch eine Belastung für die ökonomische Evaluation. Für eine korrektere Aufarbeitung sollte eigentlich auch der Nichtverlust des Arbeitsplatzes und das Abgleiten als Transferleistungsempfänger ökonomisch positiv gewertet werden, obwohl der(die)selbe PatientIn als CI-Träger nicht mehr verdient als vor der Implantation. Durch das "nicht mehr verdienen" als vorher ergibt sich auch kein positiver ökonomischer Effekt.
Ein Millionengrab sind CI-Implantationen für Kinder, die auch mit dem Implantat nicht den Einstieg in die Regelschule schaffen und im Sonderschul- und Gehörlosenbereich verbleiben. Hier verdoppeln sich die Kosten nahezu. Ein Aufwand von über 24 Millionen € für 69 Kinder, die mit CI die Sonderschule besuchen, ist ökonomisch nicht vertretbar. Die frühe Implantation ist sowohl vom medizinischen Erfolg her als auch aus ökonomischer Sicht vital. Ökonomisch gesehen ist eine Implantation nach dem vierten Lebensjahr eines prälingual ertaubten Kindes nicht mehr sinnvoll.
Insgesamt führt das lange Zeitfenster von 18 Jahren zu einem negativen Saldo. Es wurden 18,7 Millionen Euro mehr investiert als lukriert. Es sei hier festgehalten, dass sich sowohl die CI-Patientenpopulation als auch das Umfeld in diesen zwei Jahrzehnten deutlich geändert hat. War die Implantation älterer Kinder früher die Regel, so ist dies heute die Ausnahme.
Ein anderer Ansatz wäre es, das Zeitfenster des Beobachtungszeitraumes mit CI über mehr als sechs Jahre zu legen. Beispielsweise 30 Jahre oder bezogen auf die Gesamtlebenszeit der CI-Träger. Besonders bei den kleinen Kindern wären die Ergebnisse dann noch eindrücklicher. Z. B. Berechnung des Gesamtlebenseinkommens oder Transferleistungen lebenslang gerechnet. Auch dies könnte eine Aufgabe für weiterführende Studien sein. Trotzdem wären auch mit diesem längeren Beobachtungszeitraum die drei grundsätzlich sinnvollen ökonomischen Gruppen der Cochlea-Implantation dieselben. Säuglinge und Kleinkinder, postlinguale Schulkinder und Transferleistungsempfänger, die wieder Beitragszahler werden.
Evaluation des CI-Programms
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sind die erstmalige ökonomische Evaluation eines gesamten CI-Programms. Daten, Ergebnisse und Folgerungen stammen von der HNO-Universitätsklinik Wien. Insgesamt wurden von 900 CI-Patienten, die seit 1993 implantiert wurden (450 Erwachsene und 450 Kinder) Gesamtaufwendungen von 68,184 Millionen € dokumentiert. Diese kommen vom Krankenhausträger ( 62,1 Millionen €) und aus den privaten Aufwendungen von Eltern und Patienten in der Höhe von 6,084 Millionen €. Gesamt wurden an positiven ökonomischen Effekten 49,438 Millionen € lukriert. Folglich besteht ein Überschuss an Aufwendungen von 18,746 Millionen Euro.
Ökomomie versus Wertehaltung
Aus der Sicht der Ökonomie sind drei Patientengruppen zur Cochlea Implantation geeignet: Möglichst junge Kinder vor dem 4. Lebensjahr, postlingual ertaubte Schulkinder, die nach der Implantation weiterhin die Regelschule besuchen sowie Transferleistungsempfänger, die nach der Implantation wieder Beitragszahler werden. Aus medizinischer Sicht korrespondiert die ökonomisch klare Schlussfolgerung nicht mit grundsätzlich medizinischen und ethischen Werten. Die Komplexität von Mehrfachbehinderung und kostenintensiven medizinischen Randgruppen wird hier ökonomisch au ßer Acht gelassen. Trotzdem ist diese Arbeit ein wichtiger Beitrag zur Legitimation der bisher eingesetzten Gelder. Die Vertreter der Kostenträger sehen hier erstmals, welche positiven ökonomischen (nicht nur medizinischen) Folgen ihre Investition in das Gesundheitswesen hatte. Spitzenmedizin darf sich zur Kostenwahrheit bekennen. Entscheidungen, welche Gelder für welche Leistungen auch tatsächlich verwendet werden, bleiben schlussendlich aber immer gesellschaftliche und politische Entscheidungen. Es zeigt sich, dass unsere Entscheidungen nach wie vor medizinisch und ethisch geprägt sind. Dies muss aber nicht immer ökonomischen Überlegungen zuwiderlaufen.
Quelle: Der ungekürzte Originalartikel inklusive Literaturquellen ist nachzulesen in Wiener Medizinischen Wochenschrift Skriptum 8/2010. © Springer-Verlag, Wien
Von Prof. Dr. Wolf-Dieter Baumgartner, MBA, Ärzte Woche 19 /2011
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